In der Wissener Altstadt hatte sich in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine besondere Form des Dialektes entwickelt. Durch Einflüsse jüdischer Händler und jüdischer Bewohner in Wissen wurde besonders in der Altstadt ein „jiddischer Dialekt“ gemischt mit „Wissener Dialekt“ gesprochen. Aufzeichnungen dieser Sprachkombination gibt es nicht, lediglich mündliche Überlieferungen.
Die damalige Situation in Wissen
Politisch hatte sich die Lage nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ab Mitte der 1920er-Jahre einigermaßen stabilisiert. Die Menschen riskierten wieder etwas zu investieren und die Kommunalverwaltungen freuten sich über höhere Steuereinnahmen. Die Büros des Wissener Rathauses waren mit neuem, für die damalige Zeit zweckentsprechendem Mobiliar ausgestattet worden und die Volksbank vollzog die Umstellung auf Goldmark. Für die gewerbliche Wirtschaft konnte die Bank nun den angestauten Kreditbedarf bedienen. Am Ende des Geschäftsjahres 1925 betrug die Bilanzsumme der Bank 1.500.000 Mark. In den meisten Gemeinden unserer Region war die Wasserversorgung wieder sichergestellt worden. Der vernachlässigte Straßenbau in und rings um Wissen wurde forciert. Bis zum Ende des Jahres 1925 sank die Arbeitslosenzahl von 1387 auf 6 Erwerbslose. Handel und Wirtschaft blühten wieder auf und Existenzsorgen drücken nicht mehr so sehr auf das Gemüt der Menschen. Sie konnten sich wieder etwas leisten, wenn auch in bescheidenem Umfang.
Die Sprachkombination
Zu dieser Zeit gab es das gut frequentierte Textil-Kaufhaus von Ernst Bär in Wissen, der auch als Viehhändler tätig war. Auf dem Gelände des Güterbahnhofes hatte Alfred Hony sein Domizil. Er handelte mit Häuten, Fellen und Därmen. Es war ein An- und Verkauf der Produkte, die von den Metzgern kamen oder für sie bestimmt waren. So kaufte Alfred Hony Häute, aus denen Leder hergestellt wurde und Felle mit Haar, die für die Kürschner bestimmt waren. Er verkaufte Därme an die Metzger, die diese mit Wurst füllten. Das war eigentlich nichts Besonderes und dennoch gab es da unter den genannten Personen und auch anderen Viehhändlern, die meist aus dem Hammer Raum kamen, eine kleine Eigenart. Wie Alfred Hony und Ernst Bär waren die meisten Viehhändler Juden und sprachen jiddisch, wenn sie miteinander redeten.
Beim Handel mit den Wissener Metzgern — etwa dem Metzgermeister Emil Schupp, der in der Wissener Altstadt, und Josef Wickler, der in der Heisterstraße seine Metzgerei betrieb — vermischten sich jiddische Sprachfragmente mit Wissener Dialekt. Diese Mischung war nur in besagtem kleinen Personenkreis und einigen wenigen Anwohnern des Wissener „Unterdorfes“, also der Wissener Altstadt, bekannt und wurde auch nur dort gesprochen. Im restlichen Wissen war diese Sprachmischung kaum geläufig.
Ein Dialog hat sich dann zwischen Emil Schupp und Alfred Hony so angehört: „Emil häss de noch en paar Häute zu verkinijen?“ („Emil hast du noch ein paar Häute zu verkaufen?“) „En jo Alfred, esch hann noch en paar gore he. Wat wellste dann dofür beschulmen?“ („Ja Alfred, ich hab’ noch ein paar gute hier. Was willst du dafür bezahlen?“) Dazu sei noch angemerkt, dass es keine festen Preise gab, sondern nach Tagespreisen gehandelt wurde. Und weiter könnte sich der Dialog so angehört haben: „Wie vell Mejes [Meges] wellste dofür geäwen?“ („Wie viel Geld willst du dafür geben?“) Das Gespräch könnte dann so zu Ende gegangen sein: „So, jetzt well esch mo no Hem wat achelen.“ („So, jetzt will ich nach Hause etwas essen.“) Dann noch ein wohlgemeinter Hinweis: „Der Een von d’r uneren Siech es en bessjen meschugge und hät lau Messumen.“ („Der Eine von der unteren Sieg [damit war ein anderer Händler gemeint] ist ein wenig verrückt und hat kein Geld.“) Worte im weiteren Sprachgebrauch waren zum Beispiel: Rosch = Kopf, Bezinem = Wurst, Boser = Fleisch, Bore = Kuh, Schor[r] = Ochse, Zosse = Pferd, Kaserem = Schwein, Mischkel = Gewicht und auch Waage. Ein Beispiel: „Wat hät dat Boser jemischkelt?“ („Was [wie viel] hat das Fleisch gewogen?“)
Die Sprachkombination beschränkte sich nicht nur auf den fachspezifischen Bereich der Metzger und Viehhändler, sondern die Spracheigenart fand auch ihre Anwendung bei der Unterhaltung über Dinge des alltäglichen Lebens. Für den Abend wurde zwischen Emil Schupp und Alfred Hony eine Verabredung vereinbart, die sich in etwa so angehört haben könnte: „Heut owend träfen me ous dann und schasgeln [schaskenen] enn Glas Scherem und enn Soref un madabbern get üwer den Wesser Fastovend.“ („Heute Abend treffen wir uns und trinken ein Glas Bier und einen Schnapps und reden über den Wissener Karneval.“) Sowohl Ernst Bär als auch Alfred Hony wie auch Emil Schupp gehörten der damaligen Wissener Karnevalsgesellschaft „Dilldapp“ an.
Ein Gespräch von Leuten auf der Straße in der Altstadt hätte sich dann so anhören können: „Roine mo, wat hät der dann do für en Schickse am Arm?“ („Sieh mal, was hat der, also eine männliche Person jüdischen Glaubens, für ein Mädchen oder eine Frau am Arm?“) Mit „Schickse“ wurde eine weibliche Person nicht jüdischen Glaubens bezeichnet. Ein schlechter Mensch, womit ein Mann gemeint war, war „en miese Scheits“. Die weibliche Form davon war „en miese Goje“ oder auch „Ische“. „Wat kömmt dann do für en Schautermann?“ („Was oder wie kommt denn da für ein Mann daher?“) Mit „Schautermann“ wurde jemand bezeichnete, der vorgab mehr zu sein, als er wirklich ist.
War ein Geschäft nicht in Ordnung, so hieß das: „Er hät mich beseibelt.“ („Er hat mich beschummelt, übers Ohr gehauen.“) Und auch das konnte vorkommen: „Et es roches.“ („Es ist etwas verdorben.“)
In der damaligen Bäckerei Fuchs in der Wissener Altstadt hätte man folgendes hören können: „Geäv me en Lergem [Legum].“ („Gib mir ein Brot.“) Und „Lergemchen [Legumchen]“ waren dann Brötchen. Nachgefragt wie viel etwas kostete, so wäre eventuell die Antwort „Hei Schuck“ gewesen, das waren fünf Mark. Sprach man von einem Bais, so war ein Haus damit gemeint.
ANMERKUNGEN:
Die genannten Worte und Satzfragmente dieser Wissener Dialektmischung sind nur ein kleiner Teil des Wortschatzes, der damals gesprochen wurde und der heute noch, so weit die Erinnerung reicht, im Gedächtnis weniger Zeitzeugen ist. Einer von ihnen war Roland Schupp, Sohn von Emil Schupp, der zu seinen Lebzeiten diese Spracheigenart weitergegeben hat. Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen davon und so hat auch er sie lediglich nur mündlich weitergeben können.
Seit den 1930er-Jahren leben keine Juden mehr in Wissen, dafür sorgten die damaligen Machthaber. Damit verlor sich auch die eigenwillige Dialektkombination. Einigen der jüdischen Händler und Viehhändler aus Wissen und der Region, darunter auch Karl David, Viehhändler aus Hamm, gelang noch rechtzeitig die Ausreise in die USA. Dort bauten sie sich, und soweit von einigen anderen bekannt ist, wieder eine Existenz auf.
Hier und da bediente sich der ein oder andere Wissener Bewohner der Altstadt in späteren Jahren (aber erst wieder nach dem Ende der Nazidiktatur), des ein oder anderen Wortes dieser Sprachkombination. Das konnte dann sein, wenn in einem Altstadtlokal beispielsweise von früheren Zeiten erzählt wurde. Dann hieß es am nächsten Tag: „Me hann werer von fröher vezallt und och good dobie jeschaskelt.“ („Wir haben wieder von früher erzählt und auch gut dabei getrunken.“)
Jiddisch ist eine Sprache, die seit dem 13. Jahrhundert in Deutschland fassbar ist und vornehmlich von Juden gesprochen wurde. Sie setzt sich zusammen aus deutschen Mundarten sowie hebräischen und slawischen Bestandteilen. Im Jiddischen selbst sind verschiedene Strömungen festzustellen und wiederum verschiedene Dialekte. Zu welcher Art das in Wissen gesprochene Jiddisch gehörte, ist so nicht mehr auszumachen. Jedenfalls war das unter den genannten Personen Gesprochene sehr dominant von Hebraismen durchzogen.
Briefe aus Amerika
Nach dem Krieg erreichte Emil Schupp in seiner Metzgerei in der Wissener Altstadt ein Brief, der mit den Worten beginnt:
„Lieber Freund Emil! Junge bin ich froh, dass Du und mein Freund Josef Wickler (ebenfalls Wissener Metzger) den Krieg einigermaßen überstanden habt. Dass Du so lange noch Soldat warst, ist kaum zu glauben. Hast bei allem noch Glück gehabt. – Danke Gott –. Die Nazis haben das Unglück über Deutschland gebracht – man darf nicht drüber nachdenken. – Alles ist vernichtet und wofür – für nichts. Diese vom Wahnsinn erfassten Verbrecher.“
Der Brief ist vom 27. April 1947 datiert und der Absender Karl David, der in Hickman Mills in den USA, ein neues zu Hause gefunden hat.
Er möchte ja alles vergessen, schreibt er, doch die, die seinen Bruder Heinrich David „gequält“ haben, sollten bestraft werden.
Er erkundig sich nach dem Befinden von Josef Wickler. Dieser hatte zur damaligen Zeit sein Geschäft in der Heisterstraße, in der sich auch das Gefängnis befand. Ihn habe er zum letzten Mal aus dem Gefängnis in Wissen gesehen und fügt hinzu: „Junge, der hasste die Nazis.“ Er sagte mal zu mir: „Nazis sind unser Unglück, wir gehen kaputt.“ Er erwähnt aber auch in seinem Brief, dass der Gefängniswärter „ein feiner Mann war und uns gut behandelt hat“.
Weiter schreibt Karl David, dass er sich eine neue Existenz aufgebaut hat. „Ich bin Farmer geworden, wohne nahe der Stadt Kansas City, Missouri, fahre zwei Tage bis nach New York. Will nächste Woche zwölf fette Rinder und Ochsen verkaufen, es sind Jährlinge. Ich habe ungefähr achzig Stück Vieh, es sind gute Tiere.“ Und so nebenbei macht der einst Hammer Bürger Emil Schupp den Vorschlag: „Komm mal rüber.“
Er habe auch noch Kontakt zu anderen Juden aus Hamm und Wissen, schreibt er in seinem Brief. „Besuche schon mal Sally Meyer (ehemaliger Hammer Viehhändler). Er wohnt in Millwauke und handelt wieder mit Vieh. Es geht ihm sehr gut.“
Der Brief enthält weitere Adressen von Wissener Juden wie von Ernst Bär, der in Wissen ein Kaufhaus betrieb, und der sich in Dallas niedergelassen habe sowie von Siegfried Hony, der nun in Hartford wohne.
Zum Schluss des Briefes stellt Karl David unumwunden fest: „Wir sind alle alt geworden. Es war zu hart.“
Aus den Zeilen geht klar hervor, dass die beiden Wissener Metzger Gegner des Naziregimes waren und sich nicht scheuten, jüdische Familien mit Fleisch zu versorgen und auch auf offener Straße mit jüdischen Geschäftsleuten gesprochen haben. Den Brief mit seinen Aussagen ließ Karl David von einem US-Notar beglaubigen. Sein Ansinnen war, den genannten Personen eine Legitimation gegenüber den damaligen Besatzungsmächten an die Hand zu geben.
Zwischen Emil Schupp und den ihm bekannten Juden in Amerika kam es in den Nachkriegsjahren noch zum weiteren Briefwechsel. In einigen Briefen wurden dann auch Namen genannt, die sie, die jüdischen Mitbürger, drangsaliert und schikaniert haben.
FOTOS: Archiv F. Ludwig Passerah und PENs-Journal